Wir gegen die

Von DANA HAJEK
Illustration: Dana Hajek

17. Februar 2022 · Es war noch kein Impfstoff gegen das Corona-Virus zugelassen, da gingen Kritiker gegen eine Impfpflicht auf die Barrikaden. Sie sind in der Minderheit, aber laut. Im Netz erscheinen sie groß. Wie geht das? Eine Datenanalyse bei Twitter zeigt es auf.

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twa zwei Jahre ist es her: In Deutschland wird die erste Corona-Infektion gemeldet – bei einem Mitarbeiter der Firma Webasto im Landkreis Landsberg am Lech in Bayern. Was folgte, waren nicht nur Millionen von Corona-Infektionen in Deutschland und der ganzen Welt, sondern die Herausforderung für die Politik, die Gesellschaft in Zeiten der Pandemie beisammen zu halten. Was wir sehen, ist eine Lagerbildung, die sich in vielen Facetten widerspiegelt.

Die Impfung gegen das Coronavirus ist ein Hauptgegenstand der Debatte. Befürworter motivieren ihre Bekannten zum Impfen, Gegner rufen in sozialen Medien zu „Widerstand“ auf. Doch wie genau verläuft der Diskurs im Netz? Lässt sich eine Polarisierung feststellen? Hat die Berichterstattung der Zeitungen und Rundfunksender Leerstellen, die im digitalen Diskurs sichtbar werden?

Ein Blick ins Netz soll Aufschluss darüber geben, wer wie im Netz operiert, welche Akteure in welchen Kreisen Einfluss haben und wo es Überschneidungen gibt. Als Labor für diese Untersuchung soll, auch wenn es nur einen Ausschnitt der Debattenlandschaft widerspiegelt, der Kurznachrichtendienst Twitter dienen.

Twitter als Labor

Für diesen Artikel haben wir alle deutschsprachigen Tweets, Retweets und Replys zwischen dem 1. November 2021 und dem 9. Dezember 2021 gesammelt, die den Hashtag #Impfung beinhalten. Den Untersuchungszeitraum setzten wir vom Beginn der vierten Welle der Corona-Pandemie bis einen Tag vor dem Bundestagsbeschluss zur Einführung der Impfpflicht im Gesundheitswesen. Die Datenerhebung erfolgte über die historische Schnittstelle von Twitter, in der das Unternehmen selbst Archivdaten zur Verfügung stellt. Die Datenbereinigung, also das Entfernen und Korrigieren von überflüssigen, inkonsistenten oder falsch formatierten Daten, und die anschließende Analyse erfolgte mit Hilfe der Software Python 3.7 und R, mit der sich statistische Berechnungen und Grafiken erstellen lassen.

Wann Nutzer zur Impfung twittern

Eine Frage war: Wann twittern Nutzer zur Impfung? Vereinfacht gesagt, tun sie es, wenn gerade etwas passiert. Besonders bei Pandemie-bedingten Entscheidungen der Politik erreichte die Debatte Interaktionsspitzen. Dazu zählten der Lockdown für Ungeimpfte in Österreich und eine Änderung der Corona-Maßnahmen, die den Druck auf noch nicht geimpfte Menschen verschärfte.

Diese sorgte dafür, dass am 19. November 2021 die meisten Tweets, Retweets und Replys (Antworten) abgesetzt wurden: zusammen fast 22 300, von 5320 unterschiedlichen Nutzern. Grundsätzlich verwendete der Großteil der Nutzer den Hashtag aber gar nicht, um überhaupt einen Tweet abzusetzen, sondern eher, um über die weiteren Twitter-Funktionen wie Retweets oder Likes mit anderen Nutzern in Verbindung zu treten. Sichtbar wird ein Netzwerk aus 31600 Accounts, in dem die allermeisten Twitter-Nutzer miteinander verbunden sind – in einer recht eindeutigen Weise.

Die Hauptschauplätze der Impfdebatte

Einzelne Twitter-Accounts stellen die Knoten des Netzwerks dar. Die Größe der Knoten ergibt sich aus der Zahl der Reaktionen, die ein Account über Retweets (also das Veröffentlichen eines fremden Beitrags), Mentions (die Erwähnung des Namens, respektive sogenannten Handles eines Nutzers) oder Replys (Antworten auf Beiträge) erhielt. Das heißt, je häufiger die Tweets eines Accounts Reaktionen erhielten, desto größer ist der Knoten.

Die Farbe der Knoten in der Visualisierung wird über einen Modularitätsalgorithmus berechnet, der die optische Interpretation von Subnetzwerken erlaubt: Gruppen von Knoten, die stark miteinander vernetzt sind, erscheinen in derselben Farbe. Vernetzt heißt in diesem Fall, dass sie häufig über einen Retweet, Reply oder Mention miteinander in Kontakt getreten sind. 

Ein genauer Blick auf das Netzwerk zeigt die Hauptschauplätze der Impfdebatte. Blaue Knoten sind die Seiten der Impfbefürworter, die gelb/rosafarbenen die der Impfkritiker, und die grünen die traditioneller Medien und Institutionen. Der Begriff „Impfkritiker“ fasst jene Gruppen von Accounts zusammen, die dem Impfen nicht uneingeschränkt positiv gegenüberstehen. Darüber hinaus ist es schwer, die Gruppe in weitere Strömungen zu unterteilen, die Grenzen verschwimmen oft stark.

Während wir im gelben Subnetzwerk keine einheitlichen politischen Tendenzen feststellen können, enthält das rosafarbene Cluster vorwiegend Accounts, die sich um Partei- und Politiker-Accounts der AfD ansiedeln. Hier gibt die Visualisierung nur Hinweise zur Zugehörigkeit der Accounts, taugt jedoch nicht, um bestimmte Gesinnungen auszumachen. Auch im realen Leben beobachten Forscher eine große Heterogenität unter den Impfkritikern, auch, was die politische Einstellung angeht. Nichtsdestotrotz sind beide Cluster eng miteinander verwoben. Grundsätzlich besteht hier zumindest eine inhaltliche Übereinstimmung in der Impf-Debatte.

Die Position der Knoten wird über den für die Visualisierung herangezogenen ForceAtlas2-Algorithmus berechnet. Das Programm simuliert die Verbindungen als Kräfte. Das heißt, dichte Stellen in der Darstellung repräsentieren die tatsächliche strukturelle Dichte im Netzwerk. Das liegt daran, dass die Knoten in Abhängigkeit ihrer Grade, also der Anzahl der Male, die ein Account Ziel eines Retweets, Replys oder Mentions wurde (Eingangsgrad) sowie der Anzahl der Male, die ein Account selbst einen Retweet, Reply oder Mention absetzte (Ausgangsgrad) voneinander angezogen beziehungsweise abgestoßen werden.

Das Ergebnis: Kein Streit, sondern Ignoranz

Auf Twitter wird dadurch sichtbar, wie stark die Debatte polarisiert: mit den dichten, sehr engmaschig vernetzten Impfkritikern auf der einen Seite und den loser vernetzten Accounts der Impfbefürworter auf der anderen Seite. Es hat sich eine sprachliche als auch eine thematische Abgrenzung zwischen den Gruppen herausgebildet, obwohl sie denselben Hashtag verwenden. Anders gesagt: Sie streiten nicht miteinander. Sie ignorieren sich.

Eine Ausnahme bilden die zwei grünen Knoten in der Mitte: der Bayerische Rundfunk und das Bundesministerium für Gesundheit. Hier scheint es, als würden diese Accounts die beiden Subnetzwerke miteinander verbinden. Doch das täuscht: Traditionelle Medien und Institutionen interagieren in Netzwerken dieser Art kaum mit anderen Accounts. Sie erfüllen eine „Broadcaster“-Funktion. Das heißt, sie produzieren Inhalte, die Nutzer aufgreifen, mit eigenen Wertungen versehen, und erst dann weiterverbreiten.

Erklärung zur Grafik:
Grad:
Der Grad berechnet sich aus der Summe des Eingangsgrads (Anzahl der Male, die ein Account Ziel eines Retweets, Replys oder Mentions wurde) und des Ausgangsgrads (Anzahl der Male, die ein Account selbst einen Retweet, Reply oder Mention absetzte). Je höher der Eingangsgrad, desto wichtiger ist der Account im Netzwerk.
Grafik: dhaj. / Quelle: Eigene Erhebung auf Twitter

Das Phänomen der sich voneinander abschottenden Gemeinschaften beobachteten Sozialwissenschaftler auf Twitter in der Vergangenheit besonders bei kontroversen Themen, wie etwa bei der Präsidentschaftswahl von Donald Trump und vor dem Brexit-Entscheid der Briten.

Was sagt die Polarisierung aus?

An der Struktur können wir erkennen, dass die Gruppen auf unterschiedliche Informationsquellen zurückgreifen: Während die Impfbefürworter auf traditionelle Nachrichtenquellen (hellgrün) verweisen, setzen die Impfkritiker viele Verweise auf „alternative Nachrichtenseiten“. Oftmals Online-Medienangebote, die sich als Gegenstimme zu klassischen Medien inszenieren und „alternative“ und „systemkritische“ Stimmen zu Wort kommen lassen. Darunter zum Beispiel die Seite Reitschuster.de, der Blog des Journalisten Boris Reitschuster, der wiederholt mit irreführenden und fragwürdigen Angaben in der Corona-Berichterstattung auffiel.

Die größere strukturelle Dichte des Netzwerks befindet sich auf Seiten der Impfkritiker. Im blauen, „faserig“ bis diffus aussehenden Cluster bilden die Impfbefürworter zwar die Mehrheit aller Accounts (58,2 Prozent), doch sind sie deutlich schwächer vernetzt als die Impfkritiker. Grundsätzlich ist nicht ungewöhnlich für soziale Netzwerke dieser Art, dass eine geringe Zahl sehr dicht vernetzter Knoten einem sehr großen Anteil deutlich weniger vernetzter Knoten gegenübersteht. Daraus lässt sich ableiten, dass die Accounts der Impfkritiker (rosa/gelb) stärker miteinander kommunizieren.

Rasanter Zuwachs bei Impfkritikern

Innerhalb eines Jahres sind die Seiten der Impfkritiker auf Twitter rasant gewachsen: Während sich die Accounts in den Impfkritiker-Subnetzwerken um 10,2 Prozentpunkte vermehrt haben, schrumpfte das Befürworter-Netzwerk um 6,3 Prozentpunkte. Interessant ist, dass ein Großteil der Impfkritiker schon im November 2020 gegen eine mögliche Impfpflicht protestierte, als noch noch nicht einmal ein Impfstoff zugelassen war, der gegen das Coronavirus schützt.

Warum die Impfkritiker als Minderheit so einflussreich geworden sind, lässt sich an sieben Merkmalen festmachen. Erstens zeigt die lose aussehende Struktur des Impfbefürworter-Subnetzwerks, dass die Accounts auch genau in der Weise agieren: „faserig“ bis diffus, also eher heterogen, weil sie über keine einheitliche politische Agenda verfügen. Bei den Impfkritikern herrscht dagegen eine gewisse thematische Übereinstimmung. Zweitens, sind die Knoten der Impfgegner zwar deutlich weniger, aber dafür größer als die der Impfbefürworter-Seiten, nämlich durchschnittlich zehn Prozent. Das bedeutet als Beispiel, dass ein Account auf der Impfkritiker-Seite im Schnitt zehn Prozent mehr Retweets erhält als der eines Impfbefürworters.

Einer gibt den Takt vor

Dieser Umstand hängt womöglich mit dem dritten Merkmal zusammen, das mit der Sichtbarkeit zu tun hat. Trotz ihrer zahlenmäßigen Unterlegenheit besetzen Impfkritiker zentrale Positionen im Netzwerk. Erkennbar wird dies über sogenannte Hubs – einzelne Knoten, die eine sehr hohe Zahl von Verbindungen vorweisen. 

Ähnlich wie in einer Stammeskultur lassen sich über Hubs in sozialen Medien die „Oberhäupter“ identifizieren. Denn für die Entstehung eines Hubs ist entscheidend, dass ein Account nicht nur Tweets absetzt, sondern viele Reaktionen (Replys, Retweets, Mentions) auf diese Tweets erhält. Hubs nehmen eine zentrale Rolle im Netzwerk ein, da über sie ein Großteil der Kommunikation läuft. Sie geben den Takt vor.

Unter den fünfzig größten Hubs, also den Accounts, die die meisten Reaktionen von anderen Nutzern erhalten haben, befinden sich etwa 67 Prozent auf Seiten der Impfkritiker, lediglich 33 Prozent auf Seiten der Befürworter. Unter Letzteren hervorzuheben sind der Twitter-Account der Wissenschaftlerin Isabella Eckerle (@EckerleIsabella). Mit ihr interagierten Nutzer insgesamt 22 320 Mal, während sie selbst 18 (Re-)Tweets zur Impfung im Untersuchungszeitraum veröffentlichte. Ähnlich der Account des Arztes Daniel Zickler (@DanZickler), der zwar nur vier Tweets zur Impfung veröffentlichte, aber dessen Tweets 21 945 mal von anderen Nutzern geliked oder geteilt wurden.

Die 50 sichtbarsten Accounts im Untersuchungszeitraum
Werte enthalten Retweets, Replys und Gefällt-mir-Angaben; Zeitraum: 1.11.2021 bis 9.12.2021

Grafik: dhaj. / Quelle: Eigene Erhebung von Twitter

Von den fünfzig größten Hubs entfallen 20,3 Prozent auf Medien und einzelne Journalisten. Auf Seiten der Impfbefürworter sind es Medien wie Phoenix, FAZ.NET, „Zeit Online“, das Redaktionsnetzwerk Deutschland sowie „alternative“ Medien wie der Volksverpetzer. Ein weiteres Fünftel entfällt auf Akteure des Gesundheitswesens. Politische Akteure und Institutionen spielen mit 15 Prozent eine eher untergeordnete Rolle im #Impfung-Netzwerk.

Den Großteil der sichtbarsten Accounts im Netzwerk machen Accounts privater Nutzer aus. Sie finden sich ausschließlich auf Seiten der Impfkritiker. Es wird deutlich, dass auf Twitter private Akteure eine entscheidende Rolle in der Impfdebatte spielen. Ihre Tweets werden von einer breiten Masse über unterschiedliche Gruppen im Netzwerk hinweg verbreitet.

Aus diesem Bereich stammen die sichtbarsten Accounts

Grafik: dhaj. / Quelle: Eigene Erhebung von Twitter

Das vierte Merkmal betrifft die Vernetzung untereinander. Um darüber konkrete Aussagen zu treffen, muss jene zusammenhängende Gruppe von Nutzern identifiziert werden, die die in sich stärkste Vernetzung innerhalb des Netzwerks vorweist, also der „Kern“ des Netzwerks. Dafür blenden wir die Knoten mit den wenigsten Verbindungen aus, so dass nur noch solche Accounts zu sehen sind, die am stärksten untereinander interagieren. Hier zeigt sich, dass Befürworter der Impfung, von denen manche eine große Sichtbarkeit im gesamten Netzwerk haben, nicht zu diesem Kern gehören. Der Kern stellt sich als Zusammenschluss gleichartiger Accounts dar, die sich effektiv und strategisch miteinander vernetzen, um gegen die Impfung und die Corona-Maßnahmen zu mobilisieren.

Kern des Impfung-Netzwerks

Dieser Kern aus Impfkritikern besteht aus 247 Accounts. Dies sind zu 88,6 Prozent private Accounts, vereinzelt finden sich Accounts aus den Kategorien Politik und Medien. Zu diesen zählen etwa der Wirtschaftswissenschaftler Stephan Homburg, die Autoren Marc Friedrich und Ernst Wolff, der Journalist Michael Ziesmann, Bayernpartei-Politiker Alexander Hilger, AfD-Politiker Johannes Normann und der vorläufig aus der Partei ausgeschlossene CDU-Politiker Max Otte.

Im Impfkritiker-Kern befinden sich zudem eine Reihe „alternativer“ Medien wie „Wochenblick.at“, „Achgut.com“, die rechtsextreme Zeitschrift „Compact-On­line.de“ sowie „RT DE“, der deutsche Ableger des russischen Staatssenders. Das verwundert nicht. Die Themenkreise vermeintliche Impfopfer, angeblich unwirksamer Mund-Nasen-Schutz, Migration und, um es zurückhaltend zu sagen, Kritik an den traditionellen Medien, sind ihnen gemeinsam. Jürgen Elsässer, der Herausgeber des „Compact“-Magazins, vertritt diverse Theorien und ist bekennender Putin-Fan.

Der Account, mit dem die Nutzer am meisten interagierten, gehört der Journalistin Milena Preradovic, die mit durchschnittlich 37 100 Followern im Untersuchungszeitraum 18 Tweets zur #Impfung veröffentlichte. Preradovic moderiert seit Februar 2020 auf ihrem Youtube-Kanal das Interviewformat „Punkt.Preradovic“. Der Kanal zählt aktuell 93 400 Abonnenten. Die 18 unter #Impfung veröffentlichten Tweets ihres Accounts – darunter ein Interview mit Professor Sucharit Bhakdi, der behauptete, die Impfung sei sinnlos und mehrfach Falschinformationen zu Covid-19 verbreitete – wurden 5585 Mal geteilt.

40 Prozent twittert neben #Impfung auch #AfD

Das fünfte Merkmal betrifft die Hashtag-Nutzung. So ist ein wesentlicher Teil des Kerns auch in andere Hashtag-Diskurse involviert. Fast 40 Prozent der Accounts im Kern, die zu #Impfung posteten, twitterten auch #AfD. Auffällig ist, dass selbst im gesamten Netzwerk ein Großteil der Accounts #AfD postete, was darauf hindeuten kann, dass Nutzer den Hashtag #AfD strategisch verwenden, um ihm zu einer höheren Sichtbarkeit zu verhelfen. Andere Überschneidungen zeigen, wenn auch weniger auffällig, dass zehn bis 15 Prozent derselben Accounts über verschiedene Netzwerke hinweg konstant andere Hashtags verwenden. Darunter #Allesaufdentisch, #Coronadiktatur, #Plandemie und #NWO (Neue Weltordnung). Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass diese Accounts an Verschwörungsmythen glauben. Dennoch scheinen sie in Bezug auf ihre Hashtag-Nutzung tendenziell ideologisch kohärent zu sein.

Bei den Impfkritikern mag es sich um eine Minderheit handeln, auf Twitter sind sie deutlich einflussreicher als der Großteil der Beteiligten. Dieses kleine Grüppchen ist für 9,2 Prozent aller Tweets, Retweets und Replys in der #Impfung-Debatte verantwortlich und macht etwa 29 Prozent der Interaktion im gesamten Netzwerk aus, obwohl es lediglich 1,9 Prozent aller Accounts repräsentiert.

Größe ist nicht entscheidend

Dies hängt vermutlich mit der sechsten Eigenschaft zusammen. In sozialen Netzwerken sind für gewöhnlich sehr wenige, aber hyperaktive Nutzer für einen Großteil der Inhalte verantwortlich. Im Kern der Impfkritiker befinden sich die zehn aktivsten Nutzer des gesamten Netzwerks. Sie posteten, retweeteten oder kommentierten zwischen 150 bis 400 Mal in den fünf Wochen des Untersuchungszeitraums. Gehen wir davon aus, dass ein hohes Engagement zu größerer Sichtbarkeit in der algorithmisch kuratierten Twitter-Timeline führt und „belohnt“ wird, wirken diese Erkenntnisse noch einmal bedenklicher.

Dass die Impfkritiker als Minderheit einflussreich geworden sind, verrät zudem ein Blick auf die durchschnittliche Anzahl an Followern der Kern-Accounts. Sie sind keineswegs ein abgekapseltes Grüppchen, das in der Menge untergeht. Die Accounts haben jeweils im Durchschnitt 3775 Follower. Für alle Accounts im Untersuchungszeitraum beläuft sich die durchschnittliche Zahl auf 3025 Follower.

Das siebte Merkmal bezieht sich auf die Inhalte. Im Vergleich zur Seite der Befürworter, die meist den Nutzen der Corona-Impfung für die öffentliche Gesundheit betonen, zeigt eine inhaltliche Stichprobe des Impfkritiker-Kerns (1000 Tweets), dass er unter dem Hashtag #Impfung sehr unterschiedliche Erzählungen im Angebot hat: Einmal geht es um Nebenwirkungen und Sicherheitsbedenken, die Wirkungslosigkeit der Impfung, ein anderes Mal um alternative Verfahren bis hin zu Verschwörungen. Lediglich ein Prozent der Tweets vertritt eine positive Meinung zur Impfung.

So zeigt sich, auch wenn Twitter nur einen kleinen Ausschnitt der Gesellschaft repräsentiert, wie sich randständige Ansichten über soziale Medien verbreiten lassen. Der Netzwerk-Dynamik und der damit einhergehenden Verzerrung der öffentlichen Wahrnehmung entgegenzuwirken, ist schwierig. Vorstellbar ist, dass sich mit Netzwerkanalysen die einflussreichsten Seiten identifizieren ließen. Die Betreiber von Social-Media-Plattformen, Politiker oder Gesundheitsdienste könnten versuchen, sich mit gezielten Informationskampagnen genau dort einzuschalten, um Unentschlossene für sich zu gewinnen und zu verhindern, dass Falschinformationen verbreitet werden. Die Wissenschaftskommunikation hat es schwer. Ihre Botschaften lassen wenig Handlungsspielraum. Die Kritiker warten mit unterschiedlichen Standpunkten auf. Sie vermitteln ein Wir-Gefühl durch gemeinsame Erfahrungen und emotionalen Austausch. Geteilte Emotionen verbinden. Das Resultat ist eine zweigeteilte Welt: wir gegen die.

Sind die Daten repräsentativ?

Im Abschluss des Artikels stellt sich natürlich die Frage, welches Gewicht wir solchen Twitter-Debatten beimessen sollten. Twitter-Nutzer sind kein Abbild unserer Gesellschaft. Twitter wird vorwiegend von Männern mit höherem Bildungsgrad im Alter zwischen 14 und 49 Jahren genutzt und das eher in Großstädten wie Berlin und Hamburg als in ländlichen Regionen. Dennoch sind wir der Auffassung, dass sich auf Twitter gesellschaftliche Diskurse abzeichnen, weil sich zum einen bedeutende Akteure auf solchen Plattformen an Debatten beteiligen, zum anderen traditionelle Medien in ihrer Berichterstattung regelmäßig Bezüge zu Tweets herstellen. Wir könnten den Twitter-Diskurs um die #Impfung somit als wichtigen Spezialdiskurs betrachten, der in der Tat fähig ist, die gesellschaftliche Meinung zu beeinflussen.