5. April 2023 · Schätzungen zufolge leben in Deutschland etwa drei Millionen Geschwister von Menschen mit Behinderung. Gerade im Erwachsenenalter übernehmen sie oft viel Verantwortung für ihre Brüder und Schwestern. Wahrgenommen werden sie jedoch kaum.
Als Kind fiel Dunja Batarilo einmal auf: „Wow, andere Familien unterhalten sich so richtig beim Essen.“ An ihrem Esstisch ging es meist um ihren Bruder. Auch in den Urlaub fuhr die Familie nur selten: „Ich glaube, das war meinen Eltern einfach zu anstrengend.“ Trotzdem sagt Batarilo, ihre Eltern hätten sich sehr liebevoll um sie gekümmert. Sie habe eine schöne Kindheit gehabt, „nicht trotz, sondern mit David“. David ist ihr älterer Bruder. Er hat das Down-Syndrom. Bereits als Kind fühlte sie sich sehr verantwortlich für ihn, nahm ihn, bis sie ins Gymnasium kam, überallhin mit. Als David mit dreizehn Jahren Diabetes bekam, lernte sie, seinen Blutzucker zu überwachen und ihm die Spritze zu geben. Da war Batarilo ungefähr elf Jahre alt.
Im Kindesalter ist den meisten Betroffenen die
Belastung nicht bewusst, die das Leben mit einem behinderten Geschwisterkind
mit sich bringt. Es ist normal, das Leben nach den Bedürfnissen des Bruders
oder der Schwester auszurichten. Aus der erwachsenen Perspektive wünschen sich
viele dann, ihr jüngeres Ich hätte mehr Zeit gehabt, einfach Kind zu sein.
Vielen Geschwistern wird erst in späteren Jahren bewusst, wie viele
Lebensbereiche direkt und indirekt von dieser Situation beeinflusst werden –
sei es die Familienplanung, Umzüge oder das eigene Seelenleben.
Als Batarilo vor ein paar Jahren eine Doku sah, in der ein Mann und sein körperlich behinderter Bruder aus ihrem Leben erzählten, beeindruckte sie das sehr. Auch deshalb entschloss sich die Autorin und Journalistin später dazu, ihre Erfahrungen als Geschwisterkind öffentlich zu teilen. Der Mann in der Doku entpuppte sich als Sascha Velten, Gründer der Initiative „Erwachsene Geschwister“. Diese Plattform gibt Geschwisterkindern von Menschen mit Behinderung die Möglichkeit, sich untereinander zu vernetzen. Bevor Batarilo erkannte, dass da noch andere wie sie sind, habe sich die heute 42-Jährige mit ihren Gedanken und Emotionen lange Zeit „außerirdisch“ gefühlt, „wie von einem anderen Stern“. Denn: „Es spricht keiner über uns, wir auch nicht. Wir wissen oft selbst gar nicht, dass es uns gibt.“
Dabei sind sie alles andere als wenige – auch wenn sich ihre Zahl nicht ganz benennen lässt. Das liegt auch daran, dass die Geburten von Menschen mit Behinderung statistisch nicht erfasst werden – eine bewusste Abgrenzung von den Gräueltaten der Nationalsozialisten gegen die, deren Leben sie als „unwert“ ansahen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes sind etwa 7,8 Millionen Menschen in Deutschland schwerbehindert. Jedoch wird dabei nicht zwischen angeborenen Behinderungen und etwa Herzerkrankungen, Schwerhörigkeit oder dem Verlust von Gliedmaßen unterschieden. Dunja Batarilo schätzt, dass es circa drei Millionen „erwachsene Geschwister“ gibt. Diese „Schattenkinder“, wie sie manchmal genannt werden, treten öffentlich nur selten in Erscheinung. Wenn überhaupt, liegt die Aufmerksamkeit auf ihren Geschwistern. Ein Umstand, den viele von ihnen auch privat von Kindesbeinen an kennen.
Nicht zuletzt dank der Facebook-Gruppe der „Erwachsenen Geschwister“ wissen nun zumindest mehr dieser Menschen, dass „es sie tatsächlich gibt“. Im Folgenden erzählen ein paar von ihnen ihre Geschichten. Von einem Leben zwischen Verantwortung und Pflichtgefühl, Gewissensbissen und Zweifeln – und dem Wunsch nach persönlicher Freiheit. Was bringt es mit sich, in einer solchen Familienkonstellation aufzuwachsen? Und wie geht man trotzdem seinen eigenen Weg?
Viele Geschwister von Menschen mit Behinderung übernehmen schon in jungem Alter viel Verantwortung sowie pflegerische Aufgaben, springen ein, wenn die Eltern einmal nicht können. Auf der anderen Seite müssen sie damit klarkommen, dass ihre Familie ihrem Bruder oder ihrer Schwester viel mehr Aufmerksamkeit schenkt. Chiara Camp aus der Nähe von Braunschweig fing in ihrer Pubertät deswegen oft Streit mit ihren Eltern an: „Ich habe meinen Eltern an den Kopf geworfen, dass sie meine Schwester viel mehr lieben als mich.“ Ihre fünf Jahre ältere Schwester Sian hat eine frühkindliche Hirnatrophie. In ihrem Fall äußere sich das dadurch, dass sie viel länger brauche, um alltägliche Dinge zu lernen. Allein Bus fahren zu können habe bei Sian zum Beispiel fünf Jahre gedauert, berichtet die 27-Jährige. Trotz ihres jüngeren Alters fühlte sich Camp daher immer wie die große Schwester. Wenn die Lehramtsstudentin zu Hause in der Heimat ist, verbringen sie viel Zeit miteinander, gehen ins Kino oder shoppen. Gestritten wird auch – „wie Schwestern das halt machen“.
Als Geschwisterkind sei man „schon immer so Beipack“ gewesen, sagt Julia Walther. Walther heißt eigentlich anders, sie möchte anonym bleiben. Die 53-Jährige hat eine ältere Schwester namens Nina (Name ebenfalls geändert), die aufgrund von Sauerstoffmangel bei der Geburt sowohl geistig als auch körperlich behindert ist. Walther erinnert sich, immer bei Therapieterminen mit dabei gewesen zu sein: „Wir fuhren dahin und saßen gefühlt stundenlang in Wartezimmern.“ An sich hätten ihre Eltern schon versucht, ihr alles zu ermöglichen, was sie sich gewünscht habe. „Aber sie konnten sich nicht so um einen kümmern wie bei anderen Kindern.“ Gerade deshalb hätte sich Walther für ihr jüngeres Ich gewünscht, dass auch nur einmal sie und ihr älterer Bruder mit den Eltern etwas unternommen hätten. Einmal eine „normale“ Familie sein.
Diese oftmals stark eingeschränkte elterliche Verfügbarkeit sieht auch der Psychologe und emeritierte Professor an der TU Dortmund Heinrich Tröster als Risiko für die Entwicklung betroffener Kinder. Bereits 1999 hat er in einem Aufsatz fünf mögliche Problemfaktoren benannt, die das Aufwachsen mit einem behinderten Geschwisterkind mit sich bringt. Dazu zählen auch die frühe Übernahme von Verantwortung, überhöhte elterliche Leistungserwartungen, die mögliche Überidentifikation mit dem behinderten Geschwisterkind oder indirekte Probleme wie die erhöhte Belastung der Eltern oder Stigmatisierungen gegenüber der Familie. In seiner Arbeit kommt Tröster aber zu dem Schluss, dass Geschwister von behinderten Kindern in ihrer Entwicklung nicht grundsätzlich gefährdet sind, die meisten würden mit den Anforderungen, die diese Familienkonstellation ergibt, gut zurechtkommen. Jedoch geht er in dem Zusammenhang nicht darauf ein, welche Spätfolgen dieses Zusammenleben im Erwachsenenalter haben kann. Die Forschung zur psychosozialen Situation von „erwachsenen Geschwistern“ steht noch am Anfang.
Die von Tröster genannten Stigmatisierungsprozesse gegenüber der Familie hat auch Batarilo am eigenen Leib erfahren. Wenn früher andere aus dem Dorf ihren Bruder David hänselten, war sie stets zur Verteidigung bereit und steckte in der Folge oft Prügel ein. „Heute würde man das Mobbing nennen“, sagt sie, „damals hat das niemanden interessiert.“
Oft hat Batarilo das Gefühl, für David eine „Brücke in die Welt zu sein“. Denn die Rollenbeziehungen sind anders als in anderen Geschwisterkonstellationen. Batarilo war eigentlich die Kleine in ihrer Familie, habe ihren Bruder aber „irgendwann einfach hinter sich gelassen“ – mit jedem Entwicklungsschritt, den sie vor ihm vollzog, mehr.
Viele Geschwister erzählen in diesem Zusammenhang von Schuldgefühlen, die sie ihr ganzes Leben lang begleiten. Schuld, dass man im Gegensatz zum Bruder oder zur Schwester selbst keine Einschränkungen hat. „Einer von uns ist behindert, die andere ,gesund‘ – irgendwie zieht sich das durch mein Leben, der Versuch, eine Schuld abzutragen“, beschreibt Batarilo diese Emotionen.
Aber es gibt auch noch andere Schuldgefühle: die, nicht genug für das Geschwister zu tun. Julia Walther zum Beispiel plagen oft Gewissensbisse, wenn sie einmal etwas ohne ihre Schwester Nina unternimmt oder sie am Wochenende nicht zu sich holt. Wenn sie zum Beispiel in den Zoo fahren möchte, habe sie immer im Hinterkopf: „Eigentlich müsste ich sie ja mitnehmen.“ Eines Tages habe eine Freundin ihr dann gesagt: „Julia, du hast dein eigenes Leben, du darfst auch alleine in den Zoo fahren.“ Diese Gedanken einmal nicht zu haben, gehört zu Walthers größten Wünschen: „Der Kopf soll frei sein für mein Ich und mein Tun, mit und ohne Nina.“
Neben diesen Schuldgefühlen spüren viele Geschwister ein immer im Hintergrund schwelendes Pflichtbewusstsein. Sie wissen: Früher oder später werden sie für ihre Geschwister verantwortlich sein. Wenn die Eltern einmal nicht mehr können, sind es in vielen Familien die Geschwister, die die gesetzliche Betreuung übernehmen. Diese Rechtsgrundlage ermöglicht es volljährigen Menschen, die ihre Angelegenheiten aufgrund körperlicher, geistiger oder seelischer Beeinträchtigungen nicht selbst regeln können, Unterstützung von außen zu bekommen. Dem gesetzlichen Betreuer wird dabei von einem Gericht die Vertretungsmacht übertragen. Er ist verpflichtet, bei allen Entscheidungen nach dem Willen des Betreuten zu handeln. Diese rechtliche Aufgabe einmal zu übernehmen ist keine Pflicht für Geschwisterkinder, doch eine gewisse Erwartung der Eltern steht immer mit im Raum. Viele teilen sich daher schon früh diese Arbeit mit einem Elternteil. „Man muss auch reinwachsen in dieses Betreuungsthema, das geht nicht mal eben so“, sagt Julia Walther.
Im Kleinkindalter sind sie und ihre Schwester fast wie Zwillinge aufgewachsen. Doch als besonders in der Pubertät die Beziehung zu Nina kompliziert wurde und zu viel Frustration und Wut führte, setzte sich Walther irgendwann ganz von ihr ab. Sie habe in dem Moment keine Rücksicht mehr auf sie nehmen wollen, „weil ich muss eines Tages genug Rücksicht drauf nehmen, meine Zeit kommt irgendwann“. Ähnlich beschreibt es Dunja Batarilo: In ihren Zwanzigern reiste sie viel in der Welt umher und wusste doch immer: „Ich muss wieder zurück.“ Zurück zu David und ihrer Familie.
Dieser gedankliche und emotionale Drahtseilakt aus Pflichtbewusstsein auf der einen und dem Wunsch nach persönlicher Freiheit auf der anderen Seite belastet Geschwister ein Leben lang. Und hinzu kommen auch noch ganz praktische Zukunftssorgen: Sei es der immer größer werdende Pflegenotstand und Fachkräftemangel, Doppelbelastungen durch die Versorgung eines Geschwisterkindes und eines Elternteils – oder der Gedanke, was wird, sollte man vor dem behinderten Geschwisterkind sterben.
Chiara Camp entschied sich bewusst dafür, für ihr Studium aus der Nähe von Braunschweig ins über 400 Kilometer entfernte Erlangen zu ziehen: „Ich wollte einmal in meinem Leben in einem Umfeld sein, wo ich eine von vielen bin. Wo ich nicht die bin, die eine Schwester mit Behinderung hat.“ Trotzdem treibt sie schon heute der Gedanke um, vielleicht eines Tages die Zelte in Bayern mit ihrer zukünftigen Familie wieder abbrechen und zurück in die Nähe von Sian ziehen zu müssen. Gerade weil sie eines Tages die gesetzliche Betreuerin ihrer Schwester sein wird, möchte die Lehramtsstudentin eine klare Trennung zwischen Beruf und Privatem haben. Als ihre Eltern ihr auf ihren Wunsch hin, etwas mit Menschen zu machen, vorschlugen, Sozialpädagogik zu studieren, lehnte Camp das strikt ab: „Ich werde mein Leben lang mit meiner Schwester damit konfrontiert sein, ich brauche aber was anderes in meinem Berufsumfeld.“
Dass sich viele Geschwisterkinder später für soziale Berufe entscheiden, ist übrigens kein Zufall. Das Aufwachsen mit einem behinderten Kind führt oft zu einer gesteigerten Empathiefähigkeit und Hilfsbereitschaft. Dunja Batarilo stellt fest: „Es geht immer erst mal um andere.“ Situationen, in denen sie sich in irgendeiner Weise kümmern kann, stelle sie oftmals sogar aktiv her. Aber: Dabei bleibe das eigene Befinden oftmals auf der Strecke. Auch Chiara Camp sagt: „Ich bin sehr hilfsbereit. Sehr einfühlsam, sehr empathisch. Ich bekomme schnell mit, wenn Leute sich unwohl fühlen.“ Während ihres Freiwilligen Sozialen Jahrs oder Lehramtspraktika hätten sich vor allem Kinder mit Problemen ihr oft schnell geöffnet.
Geholfen, ihre Erfahrungen zu verarbeiten, hat ihnen allen unter anderem eins: sich mit anderen Betroffenen auszutauschen. „Das ist ein Thema, das ein Leben lang in einem schlummert“, sagt Julia Walther dazu. Die Facebook-Gruppe der „Erwachsenen Geschwister“ habe sie erst vor Kurzem gefunden und erkannt: „Ich bin nicht alleine. Ich habe mich davor aber immer alleine gefühlt.“ In dem betreuten Wohnhaus ihrer Schwester Nina habe es zwar auch Geschwister gegeben. Aber aus irgendeinem Grund sei man sich dort sehr fremd, „man tauscht sich nicht aus“, sagt Walther. Den Austausch durch die Gruppe von Sascha Velten gefunden zu haben sei daher sehr befreiend für sie gewesen. Mittlerweile zählt sie über 600 Mitglieder, in vielen Regionen werden Stammtische angeboten, einmal pro Jahr findet in Köln ein großes Treffen statt. Die Geschwister erzählen, es sei ein Ort, an dem man einmal nicht viel erklären müsse – denn die anderen wissen ja, worüber man spricht. Auch das Projekt WIR der Lebenshilfe Frankfurt am Main ist eine Plattform, wo betroffene Familien Hilfe bekommen können. Den Geschwisterkindern wird hier zum Beispiel Raum gegeben, einmal nur mit anderen gesunden Geschwistern zusammen zu sein. Sonstige Angebote, speziell für Erwachsene, sind jedoch selten.
Aus ähnlichen Gründen hat Dunja Batarilo vor ein paar Jahren auch ihren Podcast „Für immer anders“ ins Leben gerufen. Darin spricht sie immer wieder mit anderen Geschwistern über ihre Geschichten. Die fehlende Unterstützung von außen und die daraus entstehende psychische Belastung sind dabei auch für sie ein wichtiges Thema.
Ihrer Meinung nach braucht es besonders in der Wohn- und Betreuungsfrage „moderierte Zukunftsgespräche“, die alle Familienmitglieder an einen Tisch bringen, um gemeinsam die Zukunft des Menschen mit Behinderung zu planen. Ihr Bruder David wohnte zu Hause, bis er Anfang 30 war. Und auch dann dauerte es lange, eine tragfähige Lösung zu finden, mit der seine Lebensqualität nicht mehr vom Engagement der Eltern abhing. Batarilo erzählt, dass sie sich lange Jahre sehr dafür eingesetzt hat, einen wirklich lebenswerten Ort für ihren Bruder zu finden. „Damals dachte ich: Ich tue das für David. Aber heute denke ich: Ich habe das auch für mich getan.“