Foto: Mia Marinkovic

„Wir wissen oft selbst nicht, dass es uns gibt“

Von STEFANIE SOMMER
Foto: Mia Marinkovic

5. April 2023 · Schätzungen zufolge leben in Deutschland etwa drei Millionen Geschwister von Menschen mit Behinderung. Gerade im Erwachsenenalter übernehmen sie oft viel Verantwortung für ihre Brüder und Schwestern. Wahrgenommen werden sie jedoch kaum.

Als Kind fiel Dunja Batarilo einmal auf: „Wow, andere Familien unterhalten sich so richtig beim Essen.“ An ihrem Esstisch ging es meist um ihren Bruder. Auch in den Urlaub fuhr die Familie nur selten: „Ich glaube, das war meinen Eltern einfach zu anstrengend.“ Trotzdem sagt Batarilo, ihre Eltern hätten sich sehr liebevoll um sie gekümmert. Sie habe eine schöne Kindheit gehabt, „nicht trotz, sondern mit David“. David ist ihr älterer Bruder. Er hat das Down-Syndrom. Bereits als Kind fühlte sie sich sehr verantwortlich für ihn, nahm ihn, bis sie ins Gymnasium kam, überallhin mit. Als David mit dreizehn Jahren Diabetes bekam, lernte sie, seinen Blutzucker zu überwachen und ihm die Spritze zu geben. Da war Batarilo ungefähr elf Jahre alt.    

Im Kindesalter ist den meisten Betroffenen die Belastung nicht bewusst, die das Leben mit einem behinderten Geschwisterkind mit sich bringt. Es ist normal, das Leben nach den Bedürfnissen des Bruders oder der Schwester auszurichten. Aus der erwachsenen Perspektive wünschen sich viele dann, ihr jüngeres Ich hätte mehr Zeit gehabt, einfach Kind zu sein. Vielen Geschwistern wird erst in späteren Jahren bewusst, wie viele Lebensbereiche direkt und indirekt von dieser Situation beeinflusst werden – sei es die Familienplanung, Umzüge oder das eigene Seelenleben.


„Es spricht keiner über uns, wir auch nicht.“
DUNJA BATARILO, Journalistin

Als Batarilo vor ein paar Jahren eine Doku sah, in der ein Mann und sein körperlich behinderter Bruder aus ihrem Leben erzählten, beeindruckte sie das sehr. Auch deshalb entschloss sich die Autorin und Journalistin später dazu, ihre Erfahrungen als Geschwisterkind öffentlich zu teilen. Der Mann in der Doku entpuppte sich als Sascha Velten, Gründer der Initiative „Erwachsene Geschwister“. Diese Plattform gibt Geschwisterkindern von Menschen mit Behinderung die Möglichkeit, sich untereinander zu vernetzen. Bevor Batarilo erkannte, dass da noch andere wie sie sind, habe sich die heute 42-Jährige mit ihren Gedanken und Emotionen lange Zeit „außerirdisch“ gefühlt, „wie von einem anderen Stern“. Denn: „Es spricht keiner über uns, wir auch nicht. Wir wissen oft selbst gar nicht, dass es uns gibt.“

Bevor Dunja Batarilo andere „erwachsene Geschwister“ traf, fühlte sich die Autorin und Journalistin lange „wie von einem anderen Stern“.
Bevor Dunja Batarilo andere „erwachsene Geschwister“ traf, fühlte sich die Autorin und Journalistin lange „wie von einem anderen Stern“. Foto: Rosa Burczyk

Dabei sind sie alles andere als wenige – auch wenn sich ihre Zahl nicht ganz benennen lässt. Das liegt auch daran, dass die Geburten von Menschen mit Behinderung statistisch nicht erfasst werden – eine bewusste Abgrenzung von den Gräueltaten der Nationalsozialisten gegen die, deren Leben sie als „unwert“ ansahen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes sind etwa 7,8 Millionen Menschen in Deutschland schwerbehindert. Jedoch wird dabei nicht zwischen angeborenen Behinderungen und etwa Herzerkrankungen, Schwerhörigkeit oder dem Verlust von Gliedmaßen unterschieden. Dunja Batarilo schätzt, dass es circa drei Millionen „erwachsene Geschwister“ gibt. Diese „Schattenkinder“, wie sie manchmal genannt werden, treten öffentlich nur selten in Erscheinung. Wenn überhaupt, liegt die Aufmerksamkeit auf ihren Geschwistern. Ein Umstand, den viele von ihnen auch privat von Kindesbeinen an kennen.

Nicht zuletzt dank der Facebook-Gruppe der „Erwachsenen Geschwister“ wissen nun zumindest mehr dieser Menschen, dass „es sie tatsächlich gibt“. Im Folgenden erzählen ein paar von ihnen ihre Geschichten. Von einem Leben zwischen Verantwortung und Pflichtgefühl, Gewissensbissen und Zweifeln – und dem Wunsch nach persönlicher Freiheit. Was bringt es mit sich, in einer solchen Familienkonstellation aufzuwachsen? Und wie geht man trotzdem seinen eigenen Weg?


„Ich habe meinen Eltern an den Kopf geworfen, dass sie meine Schwester viel mehr lieben als mich.“
CHIARA CAMP

Viele Geschwister von Menschen mit Behinderung übernehmen schon in jungem Alter viel Verantwortung sowie pflegerische Aufgaben, springen ein, wenn die Eltern einmal nicht können. Auf der anderen Seite müssen sie damit klarkommen, dass ihre Familie ihrem Bruder oder ihrer Schwester viel mehr Aufmerksamkeit schenkt. Chiara Camp aus der Nähe von Braunschweig fing in ihrer Pubertät deswegen oft Streit mit ihren Eltern an: „Ich habe meinen Eltern an den Kopf geworfen, dass sie meine Schwester viel mehr lieben als mich.“ Ihre fünf Jahre ältere Schwester Sian hat eine frühkindliche Hirnatrophie. In ihrem Fall äußere sich das dadurch, dass sie viel länger brauche, um alltägliche Dinge zu lernen. Allein Bus fahren zu können habe bei Sian zum Beispiel fünf Jahre gedauert, berichtet die 27-Jährige. Trotz ihres jüngeren Alters fühlte sich Camp daher immer wie die große Schwester. Wenn die Lehramtsstudentin zu Hause in der Heimat ist, verbringen sie viel Zeit miteinander, gehen ins Kino oder shoppen. Gestritten wird auch – „wie Schwestern das halt machen“.

Als Geschwisterkind sei man „schon immer so Beipack“ gewesen, sagt Julia Walther. Walther heißt eigentlich anders, sie möchte anonym bleiben. Die 53-Jährige hat eine ältere Schwester namens Nina (Name ebenfalls geändert), die aufgrund von Sauerstoffmangel bei der Geburt sowohl geistig als auch körperlich behindert ist. Walther erinnert sich, immer bei Therapieterminen mit dabei gewesen zu sein: „Wir fuhren dahin und saßen gefühlt stundenlang in Wartezimmern.“ An sich hätten ihre Eltern schon versucht, ihr alles zu ermöglichen, was sie sich gewünscht habe. „Aber sie konnten sich nicht so um einen kümmern wie bei anderen Kindern.“ Gerade deshalb hätte sich Walther für ihr jüngeres Ich gewünscht, dass auch nur einmal sie und ihr älterer Bruder mit den Eltern etwas unternommen hätten. Einmal eine „normale“ Familie sein.    

Julia Heuwes

Julia Heuwes (r.) und ihre jüngeren Zwillingsgeschwister Christopher und Katharina im Sommer eines lange vergangenen Jahres
Julia Heuwes (r.) und ihre jüngeren Zwillingsgeschwister Christopher und Katharina im Sommer eines lange vergangenen Jahres Foto: privat
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Julia Heuwes ist 45 Jahre alt und kommt aus dem Oberbergischen Land. Ihre jüngeren Zwillingsgeschwister Christopher und Katharina, beide 37, kamen zehn Wochen zu früh auf die Welt. Christopher ist Tetraspastiker, kann seit einer Bein-OP aber weitgehend laufen und geht heute eigenständig durchs Leben. Ihre Schwester trug von der Geburt eine geistige Behinderung davon. Die gesetzliche Betreuung von Katharina teilt sich Heuwes mit ihrer Mutter.

„In meiner Kindheit drehte sich immer alles um die anderen und so gar nicht um mich. Im Endeffekt hat sich eigentlich nie so richtig jemand um mich gekümmert, außer meine Großeltern. Ich bin überall alleine hingegangen, niemand hat mit mir Hausaufgaben gemacht. Andererseits habe ich viel zu Hause geholfen. Ich bin fast überall mit hingefahren, um mich um einen der beiden zu kümmern. Da ich acht Jahre älter bin als die beiden, habe ich viel auf sie aufgepasst.

Heilerzieherin bin ich wohl auch wegen meiner Geschwister geworden. Seit zehn Jahren arbeite ich jetzt in einer integrativen Kindertageseinrichtung. In den Elterngesprächen dort bin ich oft in der Position, dass ich sie selbst darauf hinweise, ihr gesundes Kind nicht zu vergessen. Denn das ist ja meine eigene Erfahrung.

Rückblickend hätte ich mir für mein jüngeres Ich das gewünscht, was alle Kinder sich wünschen: Zeit mit den Eltern, Zeit für mich, viele Ausflüge. Aus der heutigen erwachsenen Sicht ist mir aber schon klar, dass das früher nicht einfach war. Ein behindertes Kind überfordert ja schon Familien, zwei Kinder ist eigentlich krass. Aber wir haben auch irgendwie was Tolles. Ich würde meine Geschwister nie eintauschen, weil ich durch sie tolle Sachen gelernt und erfahren habe.

Gleichzeitig würde ich ihnen aber natürlich von ganzem Herzen Gesundheit und Normalität wünschen. Ich glaube, das geht jedem erwachsenen Geschwisterchen so. Wenn man behinderte Geschwister hat, hat man immer noch so ein Verantwortungsgefühl, was man eigentlich nur bei den eigenen Kindern kennt. Man weiß, so lange, wie man da ist, ist da jemand, der einen irgendwann noch brauchen könnte. Man hat immer noch so ein Päckchen dabei. Ich würde mir wünschen, dass man einfach mal die Leichtigkeit bekäme, dieses Päckchen nicht zu fühlen.“

Diese oftmals stark eingeschränkte elterliche Verfügbarkeit sieht auch der Psychologe und emeritierte Professor an der TU Dortmund Heinrich Tröster als Risiko für die Entwicklung betroffener Kinder. Bereits 1999 hat er in einem Aufsatz fünf mögliche Problemfaktoren benannt, die das Aufwachsen mit einem behinderten Geschwisterkind mit sich bringt. Dazu zählen auch die frühe Übernahme von Verantwortung, überhöhte elterliche Leistungserwartungen, die mögliche Überidentifikation mit dem behinderten Geschwisterkind oder indirekte Probleme wie die erhöhte Belastung der Eltern oder Stigmatisierungen gegenüber der Familie. In seiner Arbeit kommt Tröster aber zu dem Schluss, dass Geschwister von behinderten Kindern in ihrer Entwicklung nicht grundsätzlich gefährdet sind, die meisten würden mit den Anforderungen, die diese Familienkonstellation ergibt, gut zurechtkommen. Jedoch geht er in dem Zusammenhang nicht darauf ein, welche Spätfolgen dieses Zusammenleben im Erwachsenenalter haben kann. Die Forschung zur psychosozialen Situation von „erwachsenen Geschwistern“ steht noch am Anfang.

Die von Tröster genannten Stigmatisierungsprozesse gegenüber der Familie hat auch Batarilo am eigenen Leib erfahren. Wenn früher andere aus dem Dorf ihren Bruder David hänselten, war sie stets zur Verteidigung bereit und steckte in der Folge oft Prügel ein. „Heute würde man das Mobbing nennen“, sagt sie, „damals hat das niemanden interessiert.“

Frauke Gonsior

(v.l.n.r.) Frauke Gonsior, ihre Zwillingsschwester Wiebke und die jüngere Schwester Tabea bei einem Spaziergang an der Donau in Passau
(v.l.n.r.) Frauke Gonsior, ihre Zwillingsschwester Wiebke und die jüngere Schwester Tabea bei einem Spaziergang an der Donau in Passau Foto: privat
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Frauke Gonsior, 39, kommt aus dem Ruhrgebiet. Ihre Zwillingsschwester Wiebke ist Tetraspastikerin, das heißt, sie kann ihre Arme und Beine nicht kontrolliert bewegen. Sie sitzt in einem E-Rollstuhl und hat einen Sprachcomputer. Wiebke wohnt allein in einer Wohnung und hat einen ambulanten Pflegedienst. Bis sie im Alter von 30 Jahren die Aufgabe krankheitsbedingt an ihre Mutter und Schwester abgeben musste, war Frauke Gonsior lange selbst die gesetzliche Betreuerin.

„Ich bin damit groß geworden, dass meine Schwester, die genauso alt ist wie ich, einfach anders aufwächst als ich. Da hab ich mich nie als Schattenkind gefühlt. Andererseits weiß ich natürlich auch nicht, wie andere Menschen mit anderen Geschwistern aufwachsen. Ich kenne ja nur meine Kindheit, ich habe keinen Vergleich.

Was aber in meiner Kindheit völlig normal war: Menschen haben schockiert meine Schwester angestarrt und übergriffige Fragen gestellt. ‚Warum lebt meine Schwester, ist es nicht besser, wenn sie tot wäre, wünscht sie sich nicht, das sie tot ist?‘ Ich musste von klein auf das Leben von Wiebke rechtfertigen. Am Anfang habe ich das gar nicht verstanden. Und ich habe versucht, ihr Leben zu verteidigen: Natürlich möchte sie leben, es ist ja nichts Schlimmes, was sie hat. Sie ist ja nicht unglücklich. Aber die Leute konnten oder wollten das auch teilweise nicht verstehen. Das passt nicht ins Weltbild, dass da jemand sitzt und vielleicht glücklich ist mit seiner Behinderung.

Was in dieser Zwillingskonstellation noch dazukam: Schon als Kind musste ich mich immer rechtfertigen, warum ich mich nicht schuldig fühle. Schuldig an der Behinderung von Wiebke. Das war bei uns in der Familie nie Thema, weil immer klar war, dass es diverse Dinge gab, die bei der Geburt einfach schiefgelaufen sind. Da können maximal die Ärzte was dafür, das Fachpersonal. Aber es passiert mir bis heute, dass Menschen zu mir sagen ‚Aber fühlst du dich nicht schuldig?‘ Nein, ich bin da geboren worden, ich konnte da nichts für.

Aus der heutigen Perspektive hätte ich mir für mein jüngeres Ich mehr Sichtbarkeit gewünscht. Einmal die Sichtbarkeit, dass es normal ist, dass ich da bin und dass meine Schwester da ist. Und aber auch in meinen Kompetenzen, zum Beispiel bei Arztbesuchen. Da eignet man sich als Geschwisterkind schon früh vieles an, ich zum Beispiel konnte viel von meiner nichtsprechenden Schwester verbalisieren. Trotzdem wurde ich nicht ernst genommen, weil ‚ich bin ja ein Kind, ich kann das ja alles nicht‘.“

Oft hat Batarilo das Gefühl, für David eine „Brücke in die Welt zu sein“. Denn die Rollenbeziehungen sind anders als in anderen Geschwisterkonstellationen. Batarilo war eigentlich die Kleine in ihrer Familie, habe ihren Bruder aber „irgendwann einfach hinter sich gelassen“ – mit jedem Entwicklungsschritt, den sie vor ihm vollzog, mehr.

Viele Geschwister erzählen in diesem Zusammenhang von Schuldgefühlen, die sie ihr ganzes Leben lang begleiten. Schuld, dass man im Gegensatz zum Bruder oder zur Schwester selbst keine Einschränkungen hat. „Einer von uns ist behindert, die andere ,gesund‘ – irgendwie zieht sich das durch mein Leben, der Versuch, eine Schuld abzutragen“, beschreibt Batarilo diese Emotionen.

Aber es gibt auch noch andere Schuldgefühle: die, nicht genug für das Geschwister zu tun. Julia Walther zum Beispiel plagen oft Gewissensbisse, wenn sie einmal etwas ohne ihre Schwester Nina unternimmt oder sie am Wochenende nicht zu sich holt. Wenn sie zum Beispiel in den Zoo fahren möchte, habe sie immer im Hinterkopf: „Eigentlich müsste ich sie ja mitnehmen.“ Eines Tages habe eine Freundin ihr dann gesagt: „Julia, du hast dein eigenes Leben, du darfst auch alleine in den Zoo fahren.“ Diese Gedanken einmal nicht zu haben, gehört zu Walthers größten Wünschen: „Der Kopf soll frei sein für mein Ich und mein Tun, mit und ohne Nina.“


„Meine Zeit kommt irgendwann.“
JULIA WALTHER

Neben diesen Schuldgefühlen spüren viele Geschwister ein immer im Hintergrund schwelendes Pflichtbewusstsein. Sie wissen: Früher oder später werden sie für ihre Geschwister verantwortlich sein. Wenn die Eltern einmal nicht mehr können, sind es in vielen Familien die Geschwister, die die gesetzliche Betreuung übernehmen. Diese Rechtsgrundlage ermöglicht es volljährigen Menschen, die ihre Angelegenheiten aufgrund körperlicher, geistiger oder seelischer Beeinträchtigungen nicht selbst regeln können, Unterstützung von außen zu bekommen. Dem gesetzlichen Betreuer wird dabei von einem Gericht die Vertretungsmacht übertragen. Er ist verpflichtet, bei allen Entscheidungen nach dem Willen des Betreuten zu handeln. Diese rechtliche Aufgabe einmal zu übernehmen ist keine Pflicht für Geschwisterkinder, doch eine gewisse Erwartung der Eltern steht immer mit im Raum. Viele teilen sich daher schon früh diese Arbeit mit einem Elternteil. „Man muss auch reinwachsen in dieses Betreuungsthema, das geht nicht mal eben so“, sagt Julia Walther.

Im Kleinkindalter sind sie und ihre Schwester fast wie Zwillinge aufgewachsen. Doch als besonders in der Pubertät die Beziehung zu Nina kompliziert wurde und zu viel Frustration und Wut führte, setzte sich Walther irgendwann ganz von ihr ab. Sie habe in dem Moment keine Rücksicht mehr auf sie nehmen wollen, „weil ich muss eines Tages genug Rücksicht drauf nehmen, meine Zeit kommt irgendwann“. Ähnlich beschreibt es Dunja Batarilo: In ihren Zwanzigern reiste sie viel in der Welt umher und wusste doch immer: „Ich muss wieder zurück.“ Zurück zu David und ihrer Familie.

Laura Stoewer

Laura Stoewer (r.) und ihre fünf Jahre jüngere Schwester Jana
Laura Stoewer (r.) und ihre fünf Jahre jüngere Schwester Jana Foto: privat
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Laura Stoewer, 26, kommt aus Leverkusen. Ihre fünf Jahre jüngere Schwester Jana hat das Cri-du-chat-Syndrom, das nach den katzenschreiähnlichen Lauten benannt ist, die Betroffene in jungen Jahren von sich geben. Sie kann nicht sprechen, ihr geistiger Entwicklungsstand ist der eines Kleinkindes. Jana wohnt zu Hause, die Betreuung übernehmen hauptsächlich ihre Eltern.

„Wenn mich jemand fragt, wie es sich anfühlt, so ein Geschwisterkind zu haben, antworte ich immer: ‚Es fühlt sich an, als bin ich ein Einzelkind, das kein Einzelkind ist.‘ Ich kann nicht die ganzen Schwesternsachen mit ihr machen, die man sonst immer macht. Sie ist keine Person, die an meinen Schrank geht und meine Klamotten klaut.

Meine Kindheit war wirklich gut, ich hatte trotzdem alles Mögliche. Jetzt im Nachhinein ist mir aber deutlich geworden, dass der Fokus auf meiner Schwester lag und ich als Kind schon darunter gelitten habe, dass sich vieles nach ihr richten musste. Ich versuche aber, meinen Eltern zu vermitteln, dass sie einen guten Job gemacht haben, weil es auch wirklich so ist. Ich möchte ihnen kein schlechtes Gefühl vermitteln, man kann sich schließlich nicht drauf vorbereiten, so ein Kind großzuziehen.

Momentan bereite ich meinen Auszug von zu Hause vor. Ursprünglich war schon die Idee, dass ich weiter wegziehe. Aber nach längerem Nachdenken habe ich mich entschieden, diesen Schritt doch nicht zu gehen. Wenn was sein sollte, möchte ich in der Nähe sein. Dementsprechend ist Köln gerade mein Ziel. Es ist nicht so, dass meine Eltern das verlangen. Aber es ist einfach mittlerweile für mich normal, Dinge davon abhängig zu machen, dass ich helfen kann. In dem Sinne finde ich es gut, dass mich meine Mutter bei all diesen Betreuungsdingen schon mit ins Boot holt, damit ich weiß, was auf mich zukommt. Wenn es dann so weit ist, werde ich dann wahrscheinlich wieder nach Leverkusen ziehen, um das besser erledigen zu können.

Mit den persönlichen Folgen, die mein Leben mit Jana für mich hat, setze ich mich tatsächlich erst seit Kurzem richtig auseinander. Der Anlass war ein Gespräch mit einem Sozialarbeiter, das ich kürzlich hatte. Aber auch weil ich kürzlich einmal den Satz zu hören bekam: ‚Du bist halt so, wie du bist, und das liegt auch unter anderem an der Situation, wie du aufgewachsen bist.‘ Der Satz blieb kleben. Beim Thema Dating zeigt es schon Spuren, weil ich von meinen Partner viel Aufmerksamkeit verlange, da ich in meiner Kindheit eher die zweite Rolle gespielt habe. Außerdem ist es mir wichtig, einen Partner zu haben, der Jana Beachtung schenkt und auch kein Problem damit hat, mit ihr und mir mal ein Eis essen zu gehen.“

Dieser gedankliche und emotionale Drahtseilakt aus Pflichtbewusstsein auf der einen und dem Wunsch nach persönlicher Freiheit auf der anderen Seite belastet Geschwister ein Leben lang. Und hinzu kommen auch noch ganz praktische Zukunftssorgen: Sei es der immer größer werdende Pflegenotstand und Fachkräftemangel, Doppelbelastungen durch die Versorgung eines Geschwisterkindes und eines Elternteils – oder der Gedanke, was wird, sollte man vor dem behinderten Geschwisterkind sterben.

Chiara Camp entschied sich bewusst dafür, für ihr Studium aus der Nähe von Braunschweig ins über 400 Kilometer entfernte Erlangen zu ziehen: „Ich wollte einmal in meinem Leben in einem Umfeld sein, wo ich eine von vielen bin. Wo ich nicht die bin, die eine Schwester mit Behinderung hat.“ Trotzdem treibt sie schon heute der Gedanke um, vielleicht eines Tages die Zelte in Bayern mit ihrer zukünftigen Familie wieder abbrechen und zurück in die Nähe von Sian ziehen zu müssen. Gerade weil sie eines Tages die gesetzliche Betreuerin ihrer Schwester sein wird, möchte die Lehramtsstudentin eine klare Trennung zwischen Beruf und Privatem haben. Als ihre Eltern ihr auf ihren Wunsch hin, etwas mit Menschen zu machen, vorschlugen, Sozialpädagogik zu studieren, lehnte Camp das strikt ab: „Ich werde mein Leben lang mit meiner Schwester damit konfrontiert sein, ich brauche aber was anderes in meinem Berufsumfeld.“

Chiara Camp (l.) und ihre fünf Jahre ältere Schwester Sian.
Chiara Camp (l.) und ihre fünf Jahre ältere Schwester Sian. Foto: privat

„Ich wollte einmal in meinem Leben in einem Umfeld sein, wo ich eine von vielen bin.“
CHIARA CAMP

Dass sich viele Geschwisterkinder später für soziale Berufe entscheiden, ist übrigens kein Zufall. Das Aufwachsen mit einem behinderten Kind führt oft zu einer gesteigerten Empathiefähigkeit und Hilfsbereitschaft. Dunja Batarilo stellt fest: „Es geht immer erst mal um andere.“ Situationen, in denen sie sich in irgendeiner Weise kümmern kann, stelle sie oftmals sogar aktiv her. Aber: Dabei bleibe das eigene Befinden oftmals auf der Strecke. Auch Chiara Camp sagt: „Ich bin sehr hilfsbereit. Sehr einfühlsam, sehr empathisch. Ich bekomme schnell mit, wenn Leute sich unwohl fühlen.“ Während ihres Freiwilligen Sozialen Jahrs oder Lehramtspraktika hätten sich vor allem Kinder mit Problemen ihr oft schnell geöffnet. 

Ines Schulze-Schlüter

Ines Schulze-Schlüter und ihr älterer Bruder Bernd
Ines Schulze-Schlüter und ihr älterer Bruder Bernd Foto: privat
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Ines Schulze-Schlüter, 60, kommt aus Köln. Ihr Bruder Bernd, 64, hat einen frühkindlichen Hirnschaden. Eigentlich ist er ihr Halbbruder. „Aber halbe Brüder gibt es nicht“, sagt sie. Bernd wohnt in einem betreuten Wohnhaus. Als ihre Mutter 2020 starb, hing die gesamte gesetzliche Betreuung plötzlich an Schulze-Schlüter.

„Nach Bernd wollte meine Mutter unbedingt noch ein gesundes Kind, weshalb ich zu Hause sehr im Mittelpunkt stand. Das liegt aber auch daran, dass Bernd auf Ratschlag von außen mit Anfang der Schulpflicht in ein Heim gekommen ist. Daher sind wir nicht so eng aufgewachsen. Allerdings weiß ich bis heute nicht, was es mit einer Anderthalbjährigen macht, wenn der große Bruder ins Heim kommt. Meine Eltern haben nicht verstanden, dass das für mich vielleicht einen großen Unterschied gemacht hat.

Durch das getrennte Aufwachsen habe ich schon eine größere Distanz zu Bernd, fühle mich aber sehr verantwortlich dafür, dass es ihm gut geht. Zum Beispiel habe ich ihm jetzt einen Spaziergeh-Kumpel organisiert, weil ich nicht jeden Samstag und Sonntag zu ihm kann.

Ich habe früh gelernt, mich zu kümmern, habe gleichzeitig aber auch genug gesunden Egoismus mitbekommen und die Chance gehabt, mich abzugrenzen. Daher wünsche ich mir, dass mir das weiter gelingt. Dass ich die Freiheiten, die ich mir erworben habe, auch weiter leben kann.

In dem Zusammenhang habe ich auch einen Wunsch für uns erwachsene Geschwister allgemein: dass die Eltern nicht von den Geschwistern erwarten, dass die ihre Rolle einnehmen. Auch aufgrund fehlender Hilfestellungen und Aufklärung ist es oft viel zu selbstverständlich für die Eltern zu sagen: ‚Wenn wir mal nicht mehr können, dann machst du doch hoffentlich.‘“

„Ich habe das auch für mich getan.“
DUNJA BATARILO

Geholfen, ihre Erfahrungen zu verarbeiten, hat ihnen allen unter anderem eins: sich mit anderen Betroffenen auszutauschen. „Das ist ein Thema, das ein Leben lang in einem schlummert“, sagt Julia Walther dazu. Die Facebook-Gruppe der „Erwachsenen Geschwister“ habe sie erst vor Kurzem gefunden und erkannt: „Ich bin nicht alleine. Ich habe mich davor aber immer alleine gefühlt.“ In dem betreuten Wohnhaus ihrer Schwester Nina habe es zwar auch Geschwister gegeben. Aber aus irgendeinem Grund sei man sich dort sehr fremd, „man tauscht sich nicht aus“, sagt Walther. Den Austausch durch die Gruppe von Sascha Velten gefunden zu haben sei daher sehr befreiend für sie gewesen. Mittlerweile zählt sie über 600 Mitglieder, in vielen Regionen werden Stammtische angeboten, einmal pro Jahr findet in Köln ein großes Treffen statt. Die Geschwister erzählen, es sei ein Ort, an dem man einmal nicht viel erklären müsse – denn die anderen wissen ja, worüber man spricht. Auch das Projekt WIR der Lebenshilfe Frankfurt am Main ist eine Plattform, wo betroffene Familien Hilfe bekommen können. Den Geschwisterkindern wird hier zum Beispiel Raum gegeben, einmal nur mit anderen gesunden Geschwistern zusammen zu sein. Sonstige Angebote, speziell für Erwachsene, sind jedoch selten.        

Das Projekt WIR der Lebenshilfe Frankfurt am Main bietet verschiedene Veranstaltungen und Treffen für Familien mit behinderten Angehörigen an. Fotos: www.projekt-wir.de

Aus ähnlichen Gründen hat Dunja Batarilo vor ein paar Jahren auch ihren Podcast „Für immer anders“ ins Leben gerufen. Darin spricht sie immer wieder mit anderen Geschwistern über ihre Geschichten. Die fehlende Unterstützung von außen und die daraus entstehende psychische Belastung sind dabei auch für sie ein wichtiges Thema.

Ihrer Meinung nach braucht es besonders in der Wohn- und Betreuungsfrage „moderierte Zukunftsgespräche“, die alle Familienmitglieder an einen Tisch bringen, um gemeinsam die Zukunft des Menschen mit Behinderung zu planen. Ihr Bruder David wohnte zu Hause, bis er Anfang 30 war. Und auch dann dauerte es lange, eine tragfähige Lösung zu finden, mit der seine Lebensqualität nicht mehr vom Engagement der Eltern abhing. Batarilo erzählt, dass sie sich lange Jahre sehr dafür eingesetzt hat, einen wirklich lebenswerten Ort für ihren Bruder zu finden. „Damals dachte ich: Ich tue das für David. Aber heute denke ich: Ich habe das auch für mich getan.“


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