Die neuen Kollegen

Von HANNAH JAGEMAST und JAMIL ZEGRER (Text) und SAMIRA SCHULZ (Fotos)

7. Februar 2024 · Amira und Maher arbeiten als Pfleger in Tunesien. Aber sie sind das marode Gesundheitssystem und die Bezahlung satt. Sie wenden sich an zwei Agenturen, um nach Deutschland zu kommen. Zwei sehr unterschiedliche Geschichten.

„Happy Birthday to you, Happy…” – zweimal das englische Geburtstagsständchen singen, solange dauert die Desinfektion der Hände, bis sie keimfrei und für die Arbeit bereit sind. Madlene gibt ihren Schülern ein ganz besonderes Desinfektionsmittel. Es leuchtet im Schwarzlicht – je heller die Haut, desto sauberer. Während die vier tunesischen Schüler nacheinander ihre Hände in den kleinen, mit Schwarzlicht ausgeleuchteten Karton halten, erklärt die gelernte Kinderkrankenpflegerin noch einmal die wichtigsten Regeln der Händehygiene.

Wir besuchen den Unterricht in einem gut ausgestatteten Übungsraum in der tunesischen Küstenstadt Sousse. Die Hitze der Frühlingssonne, die auf das weiße Gebäude scheint, erfüllt die Luft der Stadt. Aus den Schulungsräumen wurde die kalte Winterluft aber noch nicht vertrieben. Die vier Schüler im Kurs folgen Madlene interessiert. Sie kommt ursprünglich aus Deutschland und lebt jetzt seit neun Jahren in Tunesien. Ihren Unterricht führt sie streng, aber nicht engstirnig.

Gerne macht sie Scherze und bemüht sich um eine lockere Atmosphäre. Auf dem sonnendurchfluteten Vorhof, gesäumt von Grünpflanzen und steinernen Sitzecken, scherzt sie in dem kleinen überdachten Pausenraum ausgelassen mit ihren Schülern. Eine von ihnen ist Amira. Die zielstrebige und fleißige junge Frau ist wie die anderen Schüler studierte Pflegefachkraft mit dem festen Wunsch, in Deutschland zu arbeiten. Doch vorher müssen sie ihr Wissen noch einmal unter Beweis stellen.

Fotos: Jamil Zegrer

Gut ausgebildete Fachkräfte sind in Tunesien keine Mangelware, sondern Potential für die deutsche Wirtschaft. Sie sollen „den Wohlstand in Deutschland sichern“, erklärte Innenministerin Nancy Faeser, als der Bundestag im Juni vergangenen Jahres ein neues Fachkräfteeinwanderungsgesetz beschloss. Schneller und effizienter soll es ausländische Fachkräfte für den deutschen Arbeitsmarkt gewinnen.

Tunesien hat sich schon seit dem Jahr 2020 zu einem beliebten Anwerbeland für medizinische Fachkräfte entwickelt. Eintausendzweihundert Visa stellte die deutsche Botschaft in Tunesien im Jahr 2022 allein für Pflegekräfte aus. Doch derzeitige bürokratische Hürden ziehen die Migrationsprozesse oft unnötig in die Länge.

Aufmerksam folgt Amira, die in Wirklichkeit anders heißt, dem Unterricht und macht sich Notizen. Ihre leuchtend pinke Plüschjacke, die sie über den ansonsten so neutral gefärbten Klamotten trägt, verleiht ihr einen extravaganten Touch. Dabei ist sie eher zurückhaltend. Kaum kommen wir mit ihr ins Gespräch, lernen wir ihre aufgeschlossene und zuvorkommende Seite kennen. Die fünfundzwanzigjährige Frau arbeitet auf der Intensivstation in ihrer Heimatstadt Kairouan im Zentrum des Landes. Als Krankenpflegerin kommt sie nur schwer über die Runden.

Trotz einer vollen Stelle verdient sie als Berufseinsteigerin gerade mal siebenhundert Dinar im Monat, etwas mehr als zweihundert Euro. Damit sieht sie in Tunesien keine Perspektive für ihren Wunsch, selbstständig und unabhängig zu werden. Ihre Eltern kann sie damit finanziell nicht unterstützen, dabei möchte sie ihnen gerne eines Tages die Hajj, die muslimische Pilgerreise nach Mekka, ermöglichen.

Um vierzehn Uhr ist der Unterricht mit Madlene zu Ende. Amira tritt ihren Heimweg nach Kairouan an. Ihre zwei Mitschülerinnen, Imed und Ahlem, haben das gleiche Ziel. In dem kleinen, roten Auto von Imed fahren die drei Frauen täglich etwa vierzig Minuten bis zur Schule, mit Stau wird es gerne auch mal eine Stunde. Sie plaudern vertraut miteinander. Während dieser Fahrten schlummert Amira meist friedlich auf dem Rücksitz, verrät uns Imed. „Sie ist immer müde", sagt sie lachend. Kein Wunder, denn Amiras Nachtschicht geht bis sieben Uhr morgens, und der Unterricht beginnt um neun Uhr.

Immer mehr tunesische Pflegekräfte zieht es ins Ausland. Viele von ihnen beginnen ihr Pflegestudium nur, um anschließend zu emigrieren. Doch häufig fehlt die Zeit, um den komplizierten Migrationsprozess allein anzugehen. Deutschkurse, zertifizierte Sprachtests sowie Übersetzungen und Beglaubigungen von Dokumenten kosten viel Geld, Zeit und Nerven. Das wissen Arbeitsvermittlungsagenturen und versuchen, Interessenten mit vielversprechenden Angeboten anzulocken.

Als Pflegekraft arbeitet Amira achtunddreißig Stunden die Woche, schiebt regelmäßig Nachtschichten und ist am Ende des Tages völlig erschöpft. Obwohl sie ihren Deutschkurs auf Level B2 abgeschlossen, alle Dokumente übersetzt und beglaubigt hat, stehen ihr noch viele weitere Etappen bevor. Aber wann sie welche Dokumente an wen zu schicken hat, ist schwer zu überblicken.

Bevor sie ihre Fahrt nach Kairouan antreten, halten die drei Frauen bei ihrem liebsten Sandwichladen und bestellen sich Chapati, „auf die Hand, bitte“. Das luftige Fladenbrot, gefüllt mit Fleisch, Gemüse und scharfer Soße, verspeisen sie an dem kleinen Stehtisch vor dem Imbiss. Sie lachen und tauschen Neuigkeiten aus. Der stressige Alltag scheint kurz vergessen. Solche kleinen Momente der Einkehr und des Zusammenseins sind selten. Nach dem kurzen Imbiss drängeln sie sich zurück in das kleine rote Auto und stürzen sich in den frühen Feierabendverkehr.

Foto: Jamil Zegrer

Nach einer knappen Stunde erreichen wir Kairouan. Die Stadt im Herzen des Landes strotzt vor kulturellem Reichtum und Geschichte. Inoffiziell als die islamische Hauptstadt Nordafrikas bezeichnet, ist sie jedes Jahr eine wichtige Pilgerstätte für tausende Muslime. Wir fahren durch verschlungene Straßen, vorbei an kalkweißen Gebäuden, mit verzierten Balkonen und kunstvollen Minaretten.

Unzählige Türen und Fensterrahmen sind in leuchtendem Azurblau bemalt. Ihr Wahrzeichen, die große Hauptmoschee, ist ein gewaltiger Prachtbau. Amira liebt diesen Ort – nicht wegen ihrer Imposanz, sondern als ein Ort der Ruhe und Einkehr. Sie verbringt dort gerne Zeit, wenn sie einen friedlichen Rückzugsort braucht, erzählt sie uns.

Fotos: Jamil Zegrer

„Ich bin so froh, dass ich eine Vermittlungsagentur habe“, betont Amira. „Ohne sie wäre ich aufgeschmissen bei all den bürokratischen Schritten, die es zu beachten gibt.“ Sie hat sich für eine Agentur entschieden, die ein All-inclusive-Paket anbietet: Deutschkurs, Jobvermittlung, Visum, Vorbereitungskurs und Wohnung in Deutschland. Sich im Vorfeld gut zu informieren sei elementar, betont Amira, es gebe viele Agenturen, die betrögen. „Einige Menschen sagen, sie bringen dich nach Deutschland und am Ende hast du ihnen viel Geld bezahlt, aber Deutschland niemals erreicht.“

Um so etwas zu verhindern, benötigt eine Agentur, die ins Ausland vermitteln darf, eine staatlich beglaubigte Erlaubnis des tunesischen Arbeitsministeriums. Im September 2019 entzog dieses zwei ins Ausland vermittelnden Agenturen ihre Lizenz. Als Grund nannte sie Betrug, Erpressung und Handel mit gefälschten Arbeitsangeboten. Fachkräfte seien angehalten, nur mit lizenzierten Agenturen zusammenzuarbeiten. Doch viele der aktiven Vermittlungsagenturen stehen nicht auf dieser Liste, die derzeit achtunddreißig Agenturen umfasst.


„Ich bin so froh, dass ich eine Vermittlungsagentur habe.“
AMIRA

Viele von ihnen haben keinen offiziellen Sitz im Land, geben sich nur als Beratungsunternehmen aus oder melden sich schlichtweg nicht. Von Betrug und Abzocke hören wir viel von Tunesiern mit dem Wunsch auf besser bezahlte Arbeit im Ausland. Einmal werden überzogene Preise verlangt, ein anderes Mal Verträge ausgestellt, die Tunesier in Abhängigkeitsverhältnisse zur Agentur bringen. Seltener hört man auch von plumperem Betrug: Nach einer Zahlung meldet sich die Agentur nie wieder.

Zweitausend Kilometer weiter nördlich scrollt Maher durch seine Chats, während er langsam an seinem Espresso nippt. Wir treffen ihn in einem kleinen Café in Hannover. Draußen stürmt es. Der an die Fensterscheiben prasselnde Regen kann nur schwer mit der Lautstärke der Musik mithalten. Maher trägt eine leichte Regenjacke, die ihn draußen zwar trocken, aber nicht warm hält. Sein Finger streicht unablässig über das Handydisplay.

Foto: Jamil Zegrer

Tausende Nachrichten hat der sechsundzwanzig Jahre alte Physiotherapeut mit seiner Vermittlungsfirma ausgetauscht. Als er sich vor fast drei Jahren für die Agentur entschied, sei er „jung und unerfahren“ gewesen. Einige Menschen teilten ihre guten Erfahrungen mit der Agentur in Facebookgruppen, und so versuchte er sein Glück. Zwei frustrierende Jahre später und um mehr als zweitausendfünfhundert Euro erleichtert, ist er endlich in Deutschland angekommen.

Dass die Agentur in Tunesien nicht gemeldet ist, wusste er nicht, hätte ihn damals aber auch nicht abgehalten. Er wollte so schnell wie möglich nach Deutschland. Das nutzte die Agentur aus. Heute würde sich Maher nie wieder an eine Vermittlungsfirma wenden. „Wer den Prozess einmal durchgemacht hat, weiß, wie es geht.” Manchmal schämt er sich für seine damalige Naivität. Dabei vergisst er, in was für einer ausweglosen Situation er steckte. So hart dürfe er nicht mit sich sein.


„Wer den Prozess einmal durchgemacht hat, weiß, wie es geht.”
MAHER

In Deutschland sitzen die Auflagen für Vermittlungsagenturen deutlich lockerer als in Tunesien. Als einer der wenigen Kontrollmechanismen wurde 2021 ein Gütesiegel ins Leben gerufen: „Faire Anwerbung Pflege Deutschland”. Es soll „ethisch vertretbare Anwerbung und mehr Transparenz im Vermittlungsprozess” gewährleisten. Anders als in Tunesien beruht es aber rein auf Freiwilligkeit.

Kontrolliert werden Vermittlungsagenturen in Deutschland kaum; ein Beispiel dafür ist der Skandal um die Agentur PersEU vergangenes Jahr. Die Agentur war zwar Träger des Siegels, verstieß aber gegen die ethischen Richtlinien, indem sie Knebelverträge ausstellte und Fachkräfte in Schuldenfallen tappen ließ. Um dieser Art der Ausbeutung vorzubeugen, erarbeitete die International Labour Organization (ILO) schon 1997 Richtlinien zur fairen Vermittlung von Arbeitskräften. Bis heute hat die Bundesrepublik diese nicht ratifiziert.

Grund dafür seien laut parlamentarischer Anfrage unter anderem die Vermittlungsgebühren. Das ILO-Übereinkommen untersagt es, Gebühren für Vermittlungen von Fachkräften einzufordern. In Deutschland wurde das Limit auf zweitausend Euro begrenzt, für tunesische Verhältnisse immer noch eine stattliche Summe. Schließlich verdient eine tunesische Pflegekraft mit Berufserfahrung im Monat eintausendvierhundert Dinar, das entspricht umgerechnet etwa vierhundert Euro.

In Tunesien sind Vermittlungsgebühren untersagt. Darin sieht Maher einen der Gründe, warum er die Gebühren nicht von einem tunesischen Konto aus überweisen durfte. „Sie sagten mir, wenn ich von einem europäischen Konto überweise, wäre das okay.” Maher zahlte bar – übergab den Umschlag auf offener Straße einer Privatperson, wie in einem schlechten Krimi. Belege für seine Zahlungen habe er trotz mehrfacher Nachfrage nie erhalten.

„Während Arbeitgeber in Deutschland Fachkräfte suchen, möchten Vermittlungsagenturen Gewinn machen“, sagt Martin Varga. Er ist Jurist und arbeitet beim Deutschen Gewerkschaftsbund zur Erwerbsmigration und Fachkräfteeinwanderung. „Dieses Vorgehen mag zwar ökonomisch nachvollziehbar sein, darf den Agenturen aber nicht erlaubt werden.“ Regulierung von Vermittlungsfirmen sieht er als unabdingbar, um ausländische Fachkräfte zu schützen. Im Verhältnis zwischen Agentur und Fachkraft sei die einwandernde Person das schwächere Glied, womit die ökonomischen Risiken auf sie abgewälzt würden.


„Während Arbeitgeber in Deutschland Fachkräfte suchen, möchten Vermittlungsagenturen Gewinn machen.“
MARTIN VARGA, Jurist

Als sich Mahers Prozess immer weiter in die Länge zog, wurde er ärgerlich und forderte den Kontakt zum Chef der Agentur. Er konfrontierte ihn mit der Geldsumme, die er schon gezahlt hatte, und drängte darauf zu wissen, wie es weitergeht. Antworten erhielt er auf solche Nachrichten nicht, denn die Agentur hat die geforderten Beträge niemals schriftlich dokumentiert. „Sobald es um Geld ging, haben Sie mich angerufen“, erklärt er und zeigt uns die Stellen im Chat. Unter seinen Nachrichten sieht man häufig statt einer Antwort das graue Symbol für einen eingegangenen Anruf.

Bis zu seiner Anreise überschritt die Summe hingegen auch die in Deutschland erlaubte Höhe an Vermittlungsgebühren. Doch da er nie einen offiziellen Vermittlungsvertrag erhalten hatte, hat er kaum etwas in der Hand, um rechtlich gegen das Unternehmen vorzugehen.

Die Bundesregierung hat nun ein neues Gesetz auf den Weg gebracht, um ausländische Fachkräfte effizienter zu gewinnen. Der Nachfolger für das 2020 beschlossene Fachkräfteeinwanderungsgesetz, reguliert Vermittlungsagenturen weiterhin nicht. Stattdessen setzt es auf Bürokratieabbau. Ein übersichtlicher Prozess könnte Fachkräfte wie Maher vor zu großer Abhängigkeit von Vermittlungsagenturen schützen.

Doch die Änderungen des Gesetzes gehen an den reglementierten Berufen wie der Pflege weitgehend vorbei, sagt Holger Kolb vom Sachverständigenrat für Migration und Integration. Dass das neue Gesetz den erwünschten Zuwachs an neuen Fachkräften mit sich bringt, sieht er skeptisch. Pflegekräften wie Maher und Amira wird das neue Gesetz wenig helfen, um den Prozess selbst in die Hand zu nehmen. Die Vermittlungsagenturen bleiben in ihrer Position als ‚Gatekeeper’ für den Weg nach Europa unangetastet.

Foto: Jamil Zegrer

Amira ist erschöpft. Ein blauer Himmel kündigt den Morgen über Kairouan an. Die ersten Sonnenstrahlen treffen auf das steinerne Eingangstor des Ibn al-Jazzar Krankenhauses, über dem die tunesische Nationalflagge im Wind weht. Sie steht in ihrem weißen Kittel am Hintereingang der Intensivstation. Ihre Nachtschicht dauert noch eine halbe Stunde. Die Fassade des Krankenhauses sieht mitgenommen aus. Risse ziehen sich durch den weißen Stein, im Boden des Hofes klaffen einige Löcher.

Auch das Innere des Gebäudes hat seine besten Tage hinter sich. Noch immer liegen einige Patienten auf Krankenbetten in den Gängen der Intensivstation. Krankenhauspersonal bewegt sich hektisch durch die Gänge. Menschen mit müden Gesichtern sitzen neben Krankenbetten, in denen ihre Angehörigen liegen. Vor wenigen Stunden war hier die Hölle los. Die verantwortliche Ärztin kommt uns im Hof des Krankenhauses entgegen, sie hält eine Zigarette in der einen und einen Pappbecher mit Kaffee in der anderen Hand. Es sei ihre erste Pause seit zwölf Stunden, sagt sie müde lächelnd.


„Deine Arbeit wird hier nicht wertgeschätzt.“
AMIRA

Dem Krankenhaus fehlt es nicht nur an Personal, sondern auch an Material. Daher kann Amira ihre Patienten oft nicht so behandeln, wie sie es gerne würde und gelernt hat. Immer wieder laden die Angehörigen der Kranken ihren Ärger an der jungen Pflegerin ab. „Ich kann nichts dafür, ich möchte ihnen gerne besser helfen, aber mir sind die Hände gebunden“, erklärt sie frustriert. Noch vor einigen Jahren reisten jährlich tausende Libyer in das kleine Nachbarland, um die gute medizinische Versorgung zu genießen. Spätestens seit Corona ist klar: Der wirtschaftliche Abstieg seit 2011 hat das tunesische Gesundheitssystem ruiniert.

Der Großteil tunesischer Ärzte ist schon im Ausland oder arbeitet im Privatsektor, der in den vergangenen Jahren stark gewachsen ist. „Deine Arbeit wird hier nicht wertgeschätzt“, klagt Amira. Auch um sich beruflich weiterzuentwickeln und wieder Spaß an ihrem Job zu haben, möchte sie nach Deutschland.

Seither ist ein Jahr vergangen. Seit fünf Monaten lebt Amira in der baden-württembergischen Kleinstadt Göppingen. Der Ort ist eine typische, deutsche Kleinstadt. Die Sonne scheint hell über die breite Einkaufsstraße, und die Januarluft ist winterlich kalt. Amiras neuer Arbeitsplatz ist eine ruhig gelegene Klinik, dessen schicke Fassade kaum verrät, dass es sich um eine medizinische Einrichtung handelt. Die Arbeit ist hart, manchmal arbeitet sie zehn Tage am Stück. Dass sie schnell in ihrer neuen Umgebung Fuß fassen konnte, überrascht Amira am meisten. „Ich habe wirklich nicht damit gerechnet, ich hatte viel Angst.“ Ihre Familie zurückzulassen und sich so weit von Zuhause zu entfernen, war eine überwältigende Vorstellung. Heute telefoniert sie häufig mit ihren Liebsten daheim.

Kürzlich hat sie sogar Kontakt zu einer alten Schulfreundin aufgenommen, die seit einigen Monaten in Karlsruhe arbeitet. Jetzt treffen sich die beiden jungen Frauen regelmäßig an verschiedenen Orten in Baden-Württemberg. Morgen geht es mit dem Deutschlandticket zum Shoppen nach Mannheim. Dass Amira sich in Deutschland schon so wohlfühlt, liegt auch an den Menschen, die sie hier kennengelernt hat, darunter einige Tunesier. Außerdem konnte sie vor einigen Wochen in ihre eigene Wohnung umziehen.

Eine gläserne Eingangstür führt in den Flur des mehrstöckigen Häuserblocks. Die Wände erstrahlen in frischem Weiß, alles scheint renoviert. Auf der linken Seite des Ganges führt die letzte Tür in Amiras kleines Appartement. Ihre Nachbarn sind auch ihre Mitarbeiter, denn das Gebäude befindet sich auf dem Klinikgelände. Das hat seine Vorteile. „Mein Weg zur Arbeit ist sehr kurz“, sagt die junge Pflegerin grinsend. Maximal fünf Minuten plant sie dafür morgendlich ein.

Sie fühlt sich wohl auf der Arbeit, ihre Kollegen sind nett, erst vor kurzem waren sie zusammen Essen und im Kino. Doch die Stelle ist anstrengend. Direkt nach der Einreise legte Amira ihre Kenntnisprüfung erfolgreich ab und konnte somit direkt als vollwertige Fachkraft anfangen. Dieser schnelle Start hat die junge Pflegerin überrumpelt. „Ich habe seit dem ersten Tag eine große Verantwortung und kann nicht wie viele andere erstmal mitlaufen und gucken, wie alles hier funktioniert.”

Viele Pflegekräfte legen ihre Kenntnisprüfung nicht wie Amira direkt nach der Einreise ab, sondern durchlaufen erstmal eine sechsmonatige Fortbildung. Ein Problem sind dabei oft die fehlenden Zugänge zu Berufsschulen, denn auch hier mangelt es an Plätzen. Damit Pflegekräfte bei diesem schwierigen Prozess nicht allein gelassen werden, legt Amiras Vermittlungsagentur besonderes Gewicht auf die enge Zusammenarbeit von Arbeitgeber und Pflegekraft.

Stefanie Kicherer hat die Agentur vor über vier Jahren gegründet. Während ihres Studiums der Islamwissenschaft jobbte sie nebenbei in der Arbeitsvermittlungs-Branche. Nachdem sie ihren Nebenjob immer mehr professionalisiert hatte, regte sich der Wunsch ein eigenes Unternehmen zu gründen und so eröffnete sie ihre Agentur. Sie hatte schon viel Erfahrungen und wusste, was Fachkräfte brauchen, um in Deutschland Fuß zu fassen. Das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und -nehmer sieht sie nicht nur als geschäftliche Transaktion, sondern vielmehr als Bildungspartnerschaft an. Der Arbeitgeber soll die Fachkraft bei der Anerkennung unterstützen.


„Ich habe seit dem ersten Tag eine große Verantwortung und kann nicht wie viele andere erstmal mitlaufen und gucken, wie alles hier funktioniert.”
AMIRA

Diesen Gedanken hat auch das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz in Form der Anerkennungspartnerschaft aufgegriffen. Dabei verpflichtet sich der Arbeitgeber, die angeworbenen Fachkräfte aus dem Ausland zu unterstützen, während sie schon als Hilfskräfte arbeiten können. Das ist wichtig, damit sich die Fachkräfte in dieser Zeit finanziell absichern können. Eine der wenigen sehr gelungenen Neuerungen.

Die Richtlinien für faire Anwerbung in Deutschland hält Stefanie Kicherer für zu oberflächlich. So hat sie sich gegen das freiwillige Siegel entschieden, da sich Amira sowie die anderen Kandidaten an ihre Arbeitgeber binden müssen. Das Siegel untersagt diese Praxis, mit der Begründung, die Bindung könne ausländische Fachkräfte in ausbeuterischen Verhältnissen gefangen halten. Nicht zu Unrecht beklagten sich schon mehrere Arbeitnehmerverbände über derartige Regelungen. Aber Kicherer hat ihre Gründe, daran festzuhalten. „Diese Bindung an den Arbeitgeber gilt immer als rotes Licht, ich denke allerdings, dass wir das differenzierter sehen müssen“, erklärt sie.

Der Arbeitgeber zahlt Summen in Höhe von bis zu zehntausend Euro je angeworbene Fachkraft. Wenn Fachkräfte nach einigen Monaten den Arbeitsplatz wechselten, würden sich immer weniger Arbeitgeber auf diese Partnerschaft einlassen. Kicherer warnt, dass es zum Abfischen komme. Andere Arbeitgeber locken die in Deutschland anerkannten Fachkräfte mit Prämien, was für viele Zuwanderer attraktiv ist, schließlich sind sie an dem jeweiligen Ort noch nicht verwurzelt. „Die Bindung an den Arbeitgeber über mindestens ein Jahr wäre sinnvoll“, sagt sie und ergänzt, dass natürlich eine Exit-Option für die Fachkräfte gegeben sein sollte, die in den Richtlinien eines Siegels festgehalten werden könnte.

Nach seinen schlechten Erfahrungen hat Maher mit der Ankunft in Deutschland seiner Agentur und damit auch dem vorgesehenen Arbeitgeber den Rücken gekehrt. Eine neue Arbeitsstelle zu finden, war für den Physiotherapeuten einfach. Trotz bürokratischen Aufwandes wurde gern andernorts eingestellt.

Im Café hört sich Maher die wütenden Sprachnachrichten des Agenturchefs an. Eine aufgebrachte Stimme tönt aus dem Handylautsprecher. Der Chef droht, Maher das Leben schwer zu machen und dafür zu sorgen, dass ihm seine Aufenthaltserlaubnis wieder entzogen wird. „Man hat mich schon davor gewarnt, dass du schwierig bist”, sagt die Stimme.

Für solche Vermittler ist Maher tatsächlich ein schwieriger Fall, denn er hat sich schnell aus der Abhängigkeit der Agentur herausbegeben und sich selbstständig in die bürokratischen Prozesse eingelesen. In einem dicken Ordner hat er alle Dokumente gesammelt, fein säuberlich abgeheftet und chronologisch geordnet. Eine gute Voraussetzung, um den Bürodschungel in Deutschland schadlos zu überstehen. „Ich bin immer so ordentlich”, sagt er lächelnd. „Auch in der Wohnung oder beim Kochen.”

Inzwischen kann Maher über die Geschichte lachen. Als er die Nachrichten wieder hört, schmunzelt er sogar das ein oder andere Mal. Um das verschwendete Geld aber tut es ihm merklich leid. Sein Chef ist für ihn ein Vorzeigebetrüger, der sich auf seine Kosten bereichert hat. „Das Geld hat er wahrscheinlich in einen AMG gesteckt“, witzelt er – einen Mercedes-Sportwagen.

Dann klingelt sein Handy. Die Worte „Meine Seele“ erscheinen auf dem Handydisplay. Es ist seine Freundin. Er lächelt schüchtern und hebt ab. In wenigen Monaten wird auch sie nach Deutschland kommen, erzählt er uns. Ihr Anerkennungsprozess als anästhesietechnische Assistentin ist fast abgeschlossen und ein Arbeitsvertrag mit einer Freiburger Klinik in trockenen Tüchern.

„Schon wieder neue Leute?”, fragt der Kellner von Amiras neuem Lieblingsrestaurant in Göppingen zwinkernd und begrüßt uns freundlich. Amira hatte uns vorgewarnt: „Er hat sich schon mal bei mir bedankt, dass ich immer neue Gäste mitbringe.” Sie bestellt einen Hähnchenteller. Entzückt spendiert der Kellner des türkischen Restaurants eine Platte voll bunter Pasten und einen Korb Brot als Vorspeise.

Amira liebt das Essen, auch wenn es für ihren Geschmack etwas schärfer sein könnte. Sie komme oft hierher, erzählt sie, gerne auch allein. Dann sitzt sie an einem der dunklen Holztische, lauscht der türkischen Musik und versinkt in ihren Gedanken. Heute kreist ihr Kopf vor allem um eins: In nur drei Tagen fliegt sie zum ersten Mal zurück in ihre Heimat Tunesien. Ihr Gepäck ist randvoll mit Geschenken für ihre Familie.

Maher und Amira haben den steinigen Weg nach Deutschland erfolgreich beschritten. Für die vielen Tunesier, die ihn noch vor sich haben, ist die Zukunft ungewiss. Manches ist besser geworden, vieles bleibt unübersichtlich und kompliziert. Betrügerische Vermittlungsagenturen gibt es noch immer wie Sand am Meer. Damit tunesische Pflegekräfte ihre Arbeit in Deutschland würdevoll antreten können, muss sich in der Politik noch einiges ändern.


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